Interview mit Dr. Stephen Seiler

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17.07.2019 | 14:36 Uhr

Dr. Stephen Seiler ist Vizerektor für Forschung und Innovation an der University of Agder, Kristiansand, Norwegen. Er ist ehemaliger Senior Research Consultant des NOK Norwegens und Mitglied des Exekutivdirektoriums des European College of Sports Science. Er beschäftigt sich mit der Sportphysiologie und Trainingsanpassungen, insbesondere für das Ausdauertraining. Bekannt wurde er durch seine zahlreichen Veröffentlichungen zum Thema "Polarized Training".

Im folgenden Interview antwortet er den Fragen einer von ihm trainierten Ausdauersportlerin. Ins Deutsche übersetzt von Dennis Drieschner (17.07.2019)

Hintergrundfragen:


1.    Was ist Ihr Fachgebiet?
Ich bin Professor für Sportwissenschaft.  Mein spezifisches Fachgebiet ist die Interaktion zwischen physiologischen Anpassungsprozessen im Herzen, Blutgefäßen, Skelettmuskeln, Gehirn usw. und den Trainingsprozessen, die wir verwenden, um diese Anpassungen zu induzieren.  Ich versuche zu verstehen, wie man am besten trainiert, wenn das Ziel ist, unsere physiologischen Fähigkeiten zu verbessern, vor allem innerhalb von Ausdaueraktivitäten.

2.    Wie haben Sie die Trainingsphysiologie für sich entdeckt?
Nun, schon als Kind hatte ich Freude an Wissenschaft.  Ich baute mir sogar eine Art Labor im Schrank unter der Treppe, wo ich Chemie-Ausrüstung, ein Mikroskop und viele kleine Versuchstiere hatte, die ich im Wald und in den Bächen und Teichen rund um unser Haus auf dem Land sammelte.  Aber zur gleichen Zeit liebte ich Sport!  Also habe ich morgens Schulsport gemacht und bin dann nachmittags nach Hause in mein Labor gekommen. Der Schulunterricht dazwischen war meistens langweilig, aber ich war trotzdem ziemlich gut in der Schule.  Sport und Wissenschaft waren damals getrennte Welten. Dann, als ich etwa 15-16 war, las ich "The Complete Book of Running" von einem Mann namens James Fixx. Darin gibt es ein Kapitel mit dem Titel "The Scientists of Sport".  Ich denke, vielleicht wusste ich bereit was ich sein wollte, nachdem ich diesen Titel gelesen hatte.  Aber sicher wusste ich, was ich sein wollte als ich das Kapitel fertiggelesen hatte.  Es war einfach in meinem Kopf und begann ein Studium der Trainingswissenschaft und machte einen Bachelor, Master und einen PhD in diesem Bereich. 

3.    Wussten Sie schon immer, dass dies der Karriereweg war, den Sie einschlagen wollten?
Bevor ich Sport und Wissenschaft verband, wollte ich Trainer werden, war mir aber unsicher, weil ich auch die wissenschaftlichen Dinge mochte und nicht wusste, ob Coaching ein Ventil für diese Interessen sein würde.  Aber als diese beiden Wege zusammenkamen, blieb ich auf dem sportwissenschaftlichen Weg und bereute es nie.  Ich erinnere mich, dass ich mit der Idee spielte, Arzt zu werden, während ich ein Bachelor war, aber letztendlich erkannte ich, dass ich mit menschlicher Leistung studieren und arbeiten wollte, nicht mit menschlichen Krankheiten.

4.    Was haben Sie in Ihren jüngeren Tagen (Sport) gemacht?
Nun, ich bin im Süden der Vereinigten Staaten aufgewachsen.  Football (American Football, nicht Fußball) war König, und ich liebte den Sport.  Also habe ich meistens Football gespielt und bin in meiner Jugend leichtathletisch gelaufen. Ich wurde einfach nicht gebaut, um ein Footballstar zu werden und Rudern oder Radfahren oder Langlauf-Skifahren gab es nicht, wo ich aufgewachsen bin, so kam meine Bekanntschaft mit diesen Sportarten viel später. Ich saß tatsächlich zum ersten Mal mit etwa 22 Jahren auf einem Rennrad, während einer Reha nach einer Knieoperation. Sechs Wochen später nahm ich an einem lokalen Radrennen teil, wurde Dritter und erkannte, dass Ausdauertraining für mich eine sowohl intellektuell als auch körperlich zufriedenstellende Angelegenheit war. 

Leistungsfähigkeit Laufen:

1.    Was sind die Hauptbestandteile eines erfolgreichen Trainingsplans?
Der Trainingsplan sollte vor allem geleitet von und ehrlich im Einklang mit deinen langfristigen Zielen erstellt werden.  Das Ziel ist das in der Ferne leuchtende Leuchtfeuer. Es ist das, was den Trainingsplan antreibt und ihm langfristige Kontinuität und Logik verleiht.  Wenn du nicht wirklich weißt, wohin Du gehen willst, ist es ziemlich schwierig, einen Plan für den Weg dorthin zu machen.  Zwischen dem, wo du bist, und was du dir vorstellst zu erreichen, liegt ein Weg, den du erst mental und dann in der Realität konstruieren musst. Dieser Pfad wird dann in mittelfristige Ziele, wie bestimmte Rennen oder Ereignisse heruntergebrochen.  Dies sind wichtige Ankerpunkte, die Motivation auf dem längeren Weg geben und Feedback über den Verlauf geben. Der Trainingsplan muss auf den Grundsätzen der Nachhaltigkeit und der langfristigen Progression basieren.  Athleten erreichen große persönliche Ziele, wenn sie gesund bleiben, motiviert bleiben und die Trainingsarbeit tun, Woche für Woche.  Der danach vielleicht wichtigste Bestandteil des langfristigen Plans ist die Nachhaltigkeit. Der Athlet muss sich den Plan anschauen und denken: "Ich kann das, ich muss mich auf dem Weg weiterentwickeln, aber das wird das Beste in mir hervorbringen, nicht mich brechen."
Wenn wir auf das typischere Niveau des "wöchentlichen Trainingsplans" herabzoomen, möchte ich eine klare Vorstellung von 2 Hauptaspekten des Wochenplans haben: 1) Was ist das gesamte Trainingsvolumen, das wir erreichen wollen (Stunden oder Kilometer) und 2) Welche "harten" Trainingseinheiten werden wir in den Plan für diese Woche einfügen?  Beide Fragen hängen vom Athleten ab und wo sie sich in ihrer Entwicklung sowohl langfristig als auch kurzfristig befinden. Was wir also nächste Woche tun, muss immer mit dem in Verbindung gebracht werden, was in den vergangenen Wochen getan wurde. Dann müssen wir uns auf einige Details darüber einigen, wie lange die lockeren Trainingseinheiten dauern sollten und wie hart die harten Trainingseinheiten sein sollten. 
Schließlich, wenn wir auf das tägliche Training kommen (oder Workouts), geht es um die Ausführung.  Es nützt nichts einen ausgewogenen, disziplinierten Trainingsplan für die Woche zu erstellen, wenn der Athlet an lockeren Tagen zu hart trainiert und sich zu müde fühlt, um sich für die harten Tage zu mobilisieren.  Als Trainer möchte ich ehrliches Feedback darüber, wie jedes Training durchgeführt wurde.  Dann haben Trainer und Sportler eine gute Basis, um intelligente Anpassungen auf dem Weg zu machen.  Trainingspläne sind nicht in Stein gemeißelt; sie sind Richtschnur, keine Handschellen.  Gutes Feedback zur Ausführung und Reaktionen auf die Workouts sorgt also für intelligente Anpassungen und noch bessere Trainingspläne in der Zukunft, wenn Athlet und Trainer gemeinsam lernen.

2.    Wie baust du die Pyramide?
Stellen sicher, dass es diese wichtigsten Dinge sind, worauf du deine Aufmerksamkeit richtest und nicht der ganze Schnickschnack, der oft zu Ablenkungen führt.  Training ist keine Raketenwissenschaft.  Champions werden Champions, indem sie die langfristig, kontinuierlich trainieren.  Leider verdient die Fitness-Industrie Geld, indem sie ständig "neue Abkürzungen" zu einem besseren, fitteren Körper oder schnelleren 10km-Zeiten kreiert. Diese können sehr verlockend und ablenkend vom bewährten Weg zum Erfolg sein. Aber du musst die Pyramide mit regelmäßigem Training, langsamem Aufbau der Trainingsfrequenz und der Trainingsdauer, die Ihr Körper ohne übermäßige Müdigkeit und Verletzungen absorbieren kann, aufbauen.  Dazu kommt eine regelmäßige Dosis harter Trainingseinheiten hinzu (wie diese harten Intervalleinheiten) und dann muss man lernen, wie viel von dieser Zutat im Trainingsplan Fortschritte bringt und wie viel einen über den Haufen wirft.  Allein das Verhältnis zwischen hartem und lockerem Training richtig zu hinbekommen, löst eine Menge Probleme und schafft eine großartige Basis für die Entwicklung.  Danach baust du die Detail ein, die dir helfen, deinen Form so zu steuern, dass du am besten bist, wenn du an der Startlinie stehst.  Aber die Grundlagen sind, was dich dorthin bringt.

3.    Welche Bedeutung hat die Periodisierung?
Periodisierung ist ein Wort, das in Sporttrainingskreisen ein Eigenleben angenommen hat.  Die Leute scheinen zu denken, dass Periodisierung eine Art "wissenschaftlicher" magischer Planungsfeenstaub ist, der sie besser machen wird.  Der Begriff hat Wurzeln in Unternehmenswirtschaftstheorien, die lange vor die Entstehung der Sportwissenschaft zurückreichen.  Die Periodisierung wurde von Trainern und Sportwissenschaftlern aus der Sowjetunion (alte UdSSR) in die Sporttrainingstheorie integriert, die von den 5-Jahres-Produktionsplänen inspiriert zu sein schienen, die ihre Führer damals liebten.
Diese Pläne waren sehr strukturiert und starr und behandelten Menschen wie Gebäude, die gebaut wurden. Der Erfolg dieser starren Trainingspläne beruhte auf dem Konzept „Überleben des Fittesten“.  Sowjetische Trainer hatten VIELE Athleten zur Auswahl.  Die meisten blieben auf der Strecke, aber diejenigen, die „überlebten“ und auf das Trainingsprogramm reagierten, gewannen manchmal auf der internationalen Bühne.
Der Bau einer Garage ist ein sehr linearer Prozess.  Jeder Schritt muss zur richtigen Zeit in der richtigen Reihenfolge passieren oder die Garage stürzt ein.  Einen Athleten zu „bauen“ ist KEIN linearer Prozess!  Du brauchst einen Plan, ja, aber dein Plan wird iterativ sein, er wird sich entwickeln und sich an die Reaktionen des Körpers auf dem Weg anpassen. Viele Dinge geschehen gleichzeitig, sowohl innerhalb als auch außerhalb des Körpers des Athleten. Der Trainingsplan muss sich an andere Dinge im Leben anpassen, wie Universitätsprüfungen, Krankheit, Autounfälle oder den emotionalen Stress einer Beziehungstrennung.  Das ist die reale Welt und auch die Athleten leben dort.
Wenn wir das Training der besten Ausdauersportler der Welt studieren, sehen wir, dass sie einen PLAN haben, aber sie passen sich auf dem Weg an. Sie hören Sie auf ihren Körper und individualisieren.  Was wir nicht sehen, sind viele sehr kluge Details oder "Magie" in den Trainingsplänen oder deren Ausführung.  Die Magie entsteht aus dem täglichen Schinden multipliziert mit Wochen und Monaten und Jahren. Alle Champions teilen das Talent der Hartnäckigkeit.  Deshalb hatten viele norwegische Athleten keine Probleme damit, ihre Trainingstagebücher öffentlich zu machen.  Sie wissen, dass es nicht "der Trainingsplan" ist, der Champions macht, es ist die hartnäckige Ausführung dieses Plans Tag für Tag und das Wissen, wann davon abzuweichen.

4.    Wie nutzen Sie Ihr Wissen als Lauftrainer?
-    Welche Zahlen schauen Sie sich bei der Analyse eines Trainings am genausten an?
Ich denke, ich versuche, die Physiologie und die Psychologie des Trainingsprozesses zu integrieren.  Ich schaue mir das Trainingsvolumen an. Ich betrachte physiologische und psychologische Reaktionen auf die standardisierten HIT-Einheiten im Programm als Indikatoren für den Stand der Leistungsfähigkeit.  Athleten müssen manchmal an ihre Grenzen gehen und sie werden Tage haben, an denen sie an ihre Grenzen stoßen.  Das ist Teil des Prozesses.  Aber was ich suche sind frühe Anzeichen dafür, dass sie "auseinanderfallen", dass die Last zu schwer ist oder dass sie die Motivation verlieren.  Es ist das Gehirn, das zuerst während des harten Trainings „bricht“, nicht der Körper.  Also, ich messe „körperliches“, aber ich "höre" auf das, was sie Athleten sagen und fühlen. Ich übersehe oder interpretiere Signale manchmal falsch, aber das ist es, was ich versuche zu tun.


5.    Welche Bedeutung hat Erholung für die Leistung?
Erholung ist genauso wichtig wie Training.  Zu wissen, wann man sich ausruhen muss, ist eine der Eigenschaften, die die Besten vom Rest unterscheiden.  Die Besten vertrauen ihrem Körper und den Signalen, die ihr Körper an ihr Gehirn sendet.  Sie trainieren viel, aber sie haben keine Angst, den Tag auf dem Sofa zu verbringen, wenn das das ist, was benötigt wird, um das Training zu verarbeiten.

6.    Haben Sie in den späteren Jahren etwas Neues gelernt?
Ha ha, ich hoffe es, sicher!  Der Tag, an dem ich aufhöre zu lernen, ist der Tag, an dem ich einpacken und irgendwo auf einem Friedhof die Radieschen von unten betrachten muss.  Wenn es um Ausdauerleistung geht, versuche ich mehr über die Physiologie des niedrig intensiven Ausdauertrainings, das die Grundlage für Ausdauerleistung bildet zu lernen.  Ich habe viel die allgemeine Trainingsintensitätsverteilung studiert.  Ich habe das Intervalltraining viel studiert.  Aber ich denke, es gibt noch viel zu lernen, was während dieser langen niedrig intensiven Trainingseinheiten passiert und wie man dieses Training am besten plant und durchführt.

7.    Wo hat Ihrer Meinung nach die sportwissenschaftliche Welt das größte Entwicklungspotenzial für die Zukunft – worüber wissen wir heute nicht viel?
Das ist eine interessante Frage.  Einerseits werden sich die Grundlagen des Trainings nicht ändern, weil diese auf der menschlichen Physiologie basieren, die sich über Millionen von Jahren entwickelt hat.  Auf der anderen Seite sind in den letzten Jahren Technologien zur Messung dieser Physiologie explodiert. In unserer digitalen Welt können wir jetzt auch Daten über Tausende von Athleten aller Fähigkeiten sammeln, die alle jede Woche mit dem Trainingsprozess experimentieren.  Ich denke also, dass es ein riesiges Potenzial in der "Weisheit der Massen" gibt.  Durch die sorgfältige Prüfung aller Daten, die sowohl auf der Massen-Skala als auch auf der individuellen Skala generiert werden, können Sportwissenschaftler Athleten auf allen Ebenen einen besseren Rahmen für die individuelle Optimierung ihres eigenen Trainingsprozesses bieten.

8.    Was ist die Verbindung zwischen Geist und Körper?
Die bessere Frage ist wahrscheinlich, was NICHT verbunden ist?  Als Student habe ich gelernt, dass "jede Zelle psychologisch ist“ und die Wahrheit darüber ist für mich im Laufe der Zeit in dieser Forschungswelt klarer geworden. Einzelne Zellen kommunizieren miteinander. Unsere Organe kommunizieren miteinander. Unser Körper sendet Botschaften an unser Gehirn und unser Gehirn reagiert.  Dieser kontinuierliche Austausch ist von grundlegender Bedeutung für den Trainingsprozess und die Leistung.  Es ist das, was Training möglich macht und was menschliche Leistung so faszinierend macht.