Wo steht das "Deliberate Practice Modell" nach 20 Jahren?

23.02.2015 | 17:01 Uhr

Vor gut 20 Jahren haben Anders Ericsson und Kollegen erstmals ihr „Deliberate practice framework“ (im weiteren Text: DPF bzw. DP für Deliberate Practice) als Modell der Entwicklung von Expertise vorgestellt, zunächst gestützt auf Daten aus der Musik, danach auch mit dem Anspruch, dass dieses Modell auch für andere Hochleistungsbereiche übertragbar sei, z.B. für den Spitzensport. Und so ist „Deliberate practice“ (ungefähr: Zielgerichtetes, bewusstes Lernen und Trainieren) durchaus auch im Sport angekommen. Gelegentlich erfolgte dies mit populistischer Tendenz, etwa durch eine Verkürzung auf die 10.000-Stunden- oder 10-Jahres-Regel, aber auch mit umfassenderen Merkmalen wie bewusstes und konzentriertes Üben, ständiges Wiederholen in hohem Umfang, Unterstützung und Feedback durch Trainerexpertise, Anstrengung (auch ohne Spaß), klare Leistungsziele usw. Insgesamt kann diesem Ansatz aber ein hoher Einfluss auf Sport und Training attestiert werden.

Baker und Young haben im vorliegenden Beitrag (Baker, J. & Young, B. 2014: 20 years later: deliberate practice and the development of expertise in sport. International Review of Sport and Exercise Psychology Vol. 7, No. 1, 135-157 (Download)das 20jährige Bestehen zum Anlass genommen, in einer Metastudie zu analysieren, was denn aus diesem Ansatz geworden ist und vor allem, was davon inzwischen belegt und gesichert ist, was ggf. angepasst wurde und welche offenen Fragen auch für die Forschung bestehen.  Die Autoren betrachten zunächst zentrale Thesen, die Ericsson u.a. ursprünglich mit ihrem Ansatz verknüpft haben: Der absolvierte Umfang des DP hat einen direkten Bezug zur aktuellen Leistung: Wichtig ist nach Ericsson, dass die Aufgabenschwierigkeiten im Trainingsprozess progressiv gestaltet werden. Studien im Sport haben in der Hauptrichtung gezeigt, dass erfolgreichere Sportler tatsächlich mehr trainieren. Allerdings sind die Studienergebnisse durchaus differenziert, und es könnten gewisse weitere Abhängigkeiten eine Rolle spielen wie die generelle Verteilung von Trainingsinhalten (z.B. allgemein vs. speziell oder – sportartabhängig – konditionelles vs. Techniktraining) oder ihre Veränderungen im langjährigen Verlauf. Interessant ist das Zitat einer Veröffentlichung aus 2010, wonach die Stärkeren nicht unbedingt „mehr von Allem“ tun, sondern möglicherweise „viel mehr von den kleinen Dingen“. DP startet auf niedrigem Niveau und wächst langsam im Zeitverlauf: das scheint „logisch“ zu sein, die Studienlage ist allerdings trotz vorliegender Studien wenig gesichert, da darin keine vergleichbaren Erhebungskriterien verwendet wurden. Das höchste Leistungswachstum ist mit den höchsten Umfängen an DP verbunden: hier gibt es Fragen. Die Autoren beschreiben, dass es bisher ausschließlich retrospektiv angelegte Studien gibt. Diese zeigen, dass hohe Trainingsumfänge tatsächlich mit hohen Ergebnissen korrelieren. Daraus lässt sich aber nicht schließen, dass hohe Umfänge auch zu hohen Leistungen führen. Für die Klärung bedarf es anderer Studiendesigns. Perioden des DP sollten sich mit zeitlich begrenzten Erholungsphasen abwechseln: nur wenige Untersuchungen, grundsätzliche Bestätigung des Periodisierungsprinzips im Sport. Qualitätsfaktoren des DP: sehr hohe Bedeutung der Performance, hohe Bedeutung der Anstrengung, vergleichsweise niedrige Bedeutung der inhärenten Freude: im Sport zeigte sich, dass die Kategorie „Anstrengung“ präziser gefasst werden könnte durch eine Unterscheidung in physische Anstrengung und mentale Konzentration. Kritisch betrachtet wird im Sport die Bewertung von Spaß und Freude, insbesondere auch in der klassischen Betrachtung, dass DP sehr stark auf Lern- und Trainingssituationen als Einzelmaßnahme abhebt. Dies wird zumindest bzgl. der Mannschaftssportarten kontrovers gesehen. Dennoch: es liegen Untersuchungen vor, dass die besten Sportler sich in solchen Einzeltrainings von weniger guten Sportlern dadurch unterscheiden, dass sie darin verstärkt ihre Schwachstellen bearbeiten. Und das mag dann tatsächlich mit weniger Spaß verbunden sein.  In einem zweiten großen Abschnitt befassen sich Baker und Young mit offenen Fragen aus der Thematik: Muss Training und Ausbildung immer „deliberate“ (strukturiert, bewusst, absichtsvoll, kontrolliert) sein? Hier werden u.a. Alternativen zu „deliberate practice“ (z.B. „deliberate play“) diskutiert sowie die Rolle von Leistung und Wettkampf, auch unter Berücksichtigung verschiedener Typen von Sportarten. Ist „10.000 Stunden“ eine relastische Einschätzung für die Zeit bis zum Erreichen des Topniveaus? Die ausgewerteten Studien im Sport zeigen sowohl eine große Streuung von Studie zu Studie (ab etwa 4.000 bis deutlich über 10.000), aber zum Teil auch innerhalb einer Studie (z.B. Mittelwert knapp 13.000 bei einer Standardabweichung von fast 8.000). Die Gründe für diese Unterschiede sind nicht klar. So könnten die Stundenzahlen von anderen Faktoren wie z.B. der Sportart abhängen, also „inhaltlich“ begründbar sein. Oder sie sind bspw. auf messmethodische Unterschiede oder Unklarheiten zurückzuführen (z.B.: wann ist practice als DP zu bewerten), usw. Es gibt noch sehr viel Forschungsbedarf. Wie kann ein Sportler sein hohes Engagement über eine solch lange Zeit beibehalten bzw. steuern? Ericsson hat in seinem Ursprungs-Modell Anstrengung und Motivation als beschränkend für die Entwicklung von Expertise bezeichnet. Tiefergehende Fragen, insbesondere auch, wie die Beteiligten diese Faktoren über einen so langen Zeitraum erfolgreich steuern und beibehalten, und dies alles mit überschaubarer Freude, uvm. Selbstregulationsfähigkeiten scheinen eine Rolle zu spielen, aber insgesamt ist der Kenntnisstand lückenhaft. Reicht die in DP investierte Zeit aus, Expertise zu erklären? Es ist unzweifelhaft, dass ein hoher Umfang vonnöten ist. Sich allein darauf zu stützen, würde aber potenzielle genetische Einflüsse unberücksichtigt lassen. Es ist unklar, wie DP und Veranlagung in Verbindung stehen, sich ergänzen oder in Beziehung stehen. Ähnliches gilt auch für Gestaltungsfaktoren von DP in der tatsächlichen Umsetzung. Baker und Young werfen hier u.a. die Fragestellung des Wechselspiels von Deliberate practice und Deliberate recovery auf.  Abschließend stellen Baker und Young in ihrem Rückblick auf 20 Jahre DPF einige Forderungen an zukünftige Forschungen dazu vor und fassen zusammen (S. 152): „The concept of deliberate practice has increased in prominence as a research topic and as a foundational consideration for those involved with coaching and training.“ Bei aller Anerkennung: es bleibt noch einiges zu tun, um den wahren Wert des Ericsson’schen Modells zu bestimmen.