Spannungsfeld Jugend und Talent

02.05.2011 | 09:23 Uhr

Ein Kapitel aus „Jugendleichtathletik Basics“, Rahmentrainingsplan des Deutschen Leichtathletik-Verbandes, 2010 (ISBN 978-3-98417-200-8)

Es liegt auf der Hand: Die „richtigen“ Sportler rechtzeitig zu finden und diese dann zielgerichtet im Sinne des langfristigen Leistungsaufbaus zu fördern, sind unverzichtbare Kriterien für Vereine und Verbände, wenn man Spitzensportler hervorbringen will. Kein Wunder also, dass diese Fragen nach Talentbestimmung, -sichtung und –förderung seit langem Diskussions- und auch Forschungsthemen sind. Es ist wohl der Komplexität geschuldet, dass diese Fragen trotz auch aktueller Bemühungen nicht näherungsweise „endgültig“ geklärt sind. Für den einzelnen Trainer ist es schwierig, unter den verschiedenen Sichtweisen, Teilerkenntnissen und Standpunkten den Überblick zu behalten oder gar selbst fundiert abzuwägen.

Eine hervorragende Orientierungshilfe gibt das Kapitel „Spannungsfeld Jugend und Talent“ im Grundlagenband „Jugendleichtathletik Basics“ des Rahmentrainingsplanes für das Aufbautraining. Dieses Kapitel gibt eine aktuelle Übersicht zum Kenntnisstand, reflektiert wo sinnvoll auch unterschiedliche Ansichten und bietet damit gleichermaßen eine gute Orientierung wie auch gute Anregungen zur eigenen Positionierung. Lesenswert für alle Sportarten, nicht nur für Leichtathleten!
Im ersten Teilkapitel werden die Merkmale des Jugendalters in Bezug auf die sportliche Förderung und Entwicklung in den Jugendklassen (d.h. hier schwerpunktmäßig die ca. 12-18jährigen) beschrieben:

  • Pubeszenz und Adoleszenz: mit den bekannten Phasen und Schwerpunkten der sportmotorischen Entwicklung
  • Akzeleration, Retardierung und Variabilität: mit der bekannten Forderung nach Differenzierung zwischen biologischem und kalendarischem Alter, aber auch dem schon im vorigen Beitrag angesprochenen „relativen Alterseffekt“. Interessant ist der Hinweis, dass es auch Beispiele dafür gäbe, dass gelegentlich auch Spät-Geborene später die früh geborenen und geförderten „überholen“, also sozusagen von der Nicht-Förderung profitieren.
  • Psychosoziale Entwicklung: hier werden verschiedene Lebensbereiche und Entwicklungsphasen beschrieben.
  • Geschlechterunterschiede: hier wird nicht nur auf die bekannten unterschiedlichen Entwicklungsverläufe und bei den Mädchen die Notwendigkeit des sensiblen Umgangs mit Themen wie Menstruation, mögliche Einflüsse von reifungsbedingter Gewichtszunahme auf Essstörungen oder Körpergefühl und Selbstbild hingewiesen. Sehr pointiert wird der Einfluss der verschiedenen Entwicklungsrichtungen auf die Gestaltung und Anpassung der Trainingsreize hingewiesen: mit Mädchen häufiger und umfangsbetonter trainieren, mit Jungen eher intensiver!

Das zweite  Teilkapitel befasst sich mit der Talenterkennung. Einleitend wird in aller Deutlichkeit darauf hingewiesen, dass herausragende Leistungen im jungen Alter (hier: sog. Schüleralter, in der Leichtathletik bis 15 Jahre) ein unzulängliches Prognosekriterium sind, wie zahlreiche Negativbeispiele zeigen. Hingewiesen wird auch auf die Beobachtung, dass bei Nachwuchsmeisterschaften oft Sportler mit anderen Körper-„Typen“ dominieren als bei den Erwachsenen.
Als Kriterien der Leistungsprognose werden beschrieben:

  • leistungssportliche Motivation: Bezug genommen wird hier u.a. auf die Exzellenz- und Expertiseforschung, die davon ausgeht, dass es bis zum Erreichen von Spitzenleistungen etwa 10 Jahre bzw. 10.000 Stunden Zeitaufwand benötige. Das setzt natürlich entsprechende Leistungsbereitschaft, Beharrungsvermögen usw. voraus. Neben genetischen Voraussetzungen wird auch auf soziale Einflussfaktoren verwiesen, die aber weitgehend nur im sehr frühen Alter (Vorschulalter) einen entwickelnden Einfluss haben. Als relevante psychische Komponenten für kommende Leistungssportler werden benannt: Bewegungsfreude und Sportbegeisterung, Willensstärke und Durchsetzungsvermögen im Wettstreit, körperliche Leistungsbereitschaft und langfristige Belastbarkeit, Ängstlichkeit und Risikobereitschaft, Erfolgsorientierung und Misserfolgsvermeidung.
  • Veranlagung und Vererbung: Diese Faktoren sind unbestritten. Es muss allerdings berücksichtigt werden, dass  sich die Anlagen erst durch Umwelteinflüsse tatsächlich zu den nötigen Faktoren wie z.B. Laufschnelligkeit, Wurfkraft usw. entwickeln. Häufige Beispiele mit Kindern ehemaliger Spitzensportler zeigen, dass zunächst hervorragende Voraussetzungen in diesem Sinne durch andere, eher negative Faktoren (z.B. Leistungsdruck, Unerreichbarkeit des elterlichen Erfolgs usw.) überkompensiert werden.

Zum Buch:
Das Aufbautraining in der Leichtathletik findet idealtypisch je nach Orientierung in einem Disziplinblock (z.B. Sprint oder Wurf oder Sprung) statt,  nicht in allen Disziplinen. Deshalb gibt es auch mehrere Rahmentrainingspläne dafür. Der hier vorgestellte Band „Basics“ gilt allerdings für alle beginnenden Spezialisierungen und stellt übergreifende wie gemeinsame Themen des Aufbautrainings vor. Diese sind tatsächlich so grundlegend, dass sie auch für viele andere Sportarten eine echte Fundgrube sind. Neben umfangreichem, aber immer komprimiert und übersichtlich dargestelltem Hintergrundwissen z.B. zum Techniktraining, zur konditionellen Entwicklung oder zum Voraussetzungstraining gibt es auch ein umfangreiches, fundiertes Praxiskapitel zu grundlegenden Faktoren ( allgemein-athletische Ausbildung, Kraft- und Hanteltraining, Beweglichkeit, Koordination) und eine Betrachtung zur Trainerrolle im Nachwuchstraining.